Sozialismus von unten Magazin für antikapitalistische Debatte & Kritik Hrsg.: Linksruck Netzwerk Tel: 030 - 63.22.56.30 Fax: 030 - 63.22.56.21 e-mail: svu@linksruck.de www.sozialismus-von-unten.de |
Wie weiter nach Genua?
Angela Klein Genua war die größte Demonstration, die je gegen ein internationales Gipfeltreffen protestiert hat; gleichzeitig war sie einer brutalen Repression ausgesetzt, die es in dieser Form in Europa in der Nachkriegszeit bisher nicht gegeben hat. Beide Faktoren bedeuten, dass die Bewegung gegen die Konzernherrschaft an einem Wendepunkt angelangt ist, an dem sie diskutieren muss, wie sie weitermacht. Festigung
Die Mobilisierung, die das Genoa Social Forum (GSF) auf die Beine gestellt hat, bezeichnete in mehrerlei Hinsicht einen qualitativen Fortschritt: zum einen wegen der schieren Masse der Teilnehmenden (200.000-300.000 Menschen), zum anderen wegen dem Grad an gesellschaftlicher Verankerung, der sich darin ausdrückt - wenigstens trifft das für die italienische Realität zu. Mit der Teilnahme der ganzen Bandbreite von katholischen Sozialvereinen, über Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen, Frauen- und Migrantengruppen, Studierenden- und Schülerorganisationen, Basisgewerkschaften, der Metallarbeitergewerkschaft FIOM und einzelnen Gliederungen der CGIL, Interessengruppen aller Art, autonomen Jugendzentren, Ärzteorganisationen, bis hin zu politischen Parteien, Gruppen und Organisationen der Linken und der extremen Linken hat das GSF schon vor Genua die Bandbreite des heute in Italien existierenden Widerstands gebündelt. Durch die Art und Weise, wie es die inhaltliche Debatte und Massenaktionen in der Woche vom 16. bis 22.Juli geführt hat, wie es auch die Pluralität und den Zusammenhalt in den eigenen Reihen bewahrt hat, hat es sich in den "Tagen von Genua" unbestreitbar als die führende soziale Opposition in Italien behauptet. Nur folgerichtig ist es deshalb, dass es sich nach Genua in eine ständige Struktur umgewandelt hat, die nun den Namen Forum Sociale Italiano trägt und sich als italienischer Ableger des Weltsozialforums von Porto Alegre versteht. Die Ereignisse von Genua haben die Bewegung und ihre Strukturen also gefestigt. Breite
Die Ermordung von Carlo Giuliani, die
brutale Unterdrückung aller
Demonstrationsteile, die Stürmung der
Diaz Schule, die Folter in den Gefängnissen
haben im Anschluss an den Gipfel in Italien
und international eine Welle der Empörung
entfacht, die ebenfalls ihresgleichen sucht. Das Thema Demokratie und Menschenrechte (zumal in Verbindung mit der EU) steht nun ganz oben auf der Themenliste der Bewegung. Genua hat der Bewegung gezeigt, dass die Herrschenden von Dialog nur reden, ihn aber nicht praktizieren; ihre einzige konkrete Antwort, die sie auf die Bewegung finden, ist die nackte Repression und der Marsch in den Polizeistaat. In verschiedensten italienischen Städten haben sich vor und nach Genua Ableger des Forum Sociale gebildet; die Bewegung breitet sich aus und gewinnt eine reale Massenbasis. 300 Richter und Rechstanwälte haben sich zusammengefunden, um die Angeklagten zu verteidigen und Beweismaterial für eine umfangreiche Anklageerhebung gegen die italienische Regierung zusammenzustellen. Sie haben eine neue Struktur gebildet, das Genoa Legal Forum, zu dem auch namhafte ehemalige Richter am Haager Gerichtshof gehören. Die meisten von ihnen fühlten sich bislang den GSF nicht zugehörig und haben auch nicht an den Demonstrationen teilgenommen. Ebenso hat die Internationale Vereinigung demokratischer Juristen beschlossen, eine unabhängige Ermittlungsarbeit aufzunehmen und ein internationales Tribunal gegen die Regierung durchzuführen. Die traditionellen Gewerkschaften
können sich dem Druck der Bewegung nicht
mehr entziehen: Anders als in der BRD, wo
der DGB und seine Einzelgewerkschaften
die Bewegung nach wie vor ignorieren, ist
im größten Verband, der CGIL, ein heftige
Debatte ausgebrochen. Der Hauptvorstand
wird mit Briefen von TeilnehmerInnen an
der Demonstration bombardiert, und alles
dreht sich um die eine Frage: "Wo wart ihr? Die Fraktion der Vereinigten Linken im Europaparlament hat beschlossen, die Geschehnisse in Genua auf die Tagesordnung verschiedener Gremien des Parlaments zu setzen; die Forderung nach einer Untersuchungskommission des EP findet über die Fraktion hinaus Unterstützung. o Ausweitung und Festigung der Bewegung lässt sich auch in Frankreich, Spanien und selbst in Deutschland beobachten, wo die Proteste gegen die Brutalitäten der Polizei in vielen Städten und teilweise sehr massiv stattfanden. ATTAC hat nach Genua eine Welle von Eintritten verzeichnet. Und die nächsten Wochen versprechen weitere Mobilisierungen. Dynamik
Die Dynamik der Bewegung ist ungebrochen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Repression nennenswerte Teile davon abhalten kann, ihren Protest weiter auf die Straße zu bringen - wenn es auch stimmt, wie Walden Bello sagt, dass wir (soweit wir es können) dafür sorgen müssen, dass sie friedlich abgehen, sonst können wir die breite Bevölkerung nicht guten Gewissens aufrufen, sich zu beteiligen. Die Terminkalender sind prall gefüllt:
Im selben Jahr ist auch die
Durchführung eines Social Forum des
Mittelmeerraums geplant, das der Vorbereitung
des Weltsozialforums in 2001 dienen soll. Für alle eine Herausforderung ist die Durchführung eines internationalen Protesttags anlässlich der WTO-Tagung in Qatar im November. Deutungsschema
Auf die Drohung massiver Repression reagiert die Bewegung spontan mit ihrer Erweiterung und engen Verzahnung mit den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die vor Ort laufen. Für Italien bedeutet das einen "heißen Herbst". Die Metallarbeitergewerkschaft FIOM hat Streiks für einen neuen Tarifvertrag angekündigt; die SchülerInnen rebellieren, weil die Regierung eine Privatisierung des Schulwesens angekündigt hat; in den Krankenhäusern brodelt es wegen der geplanten Gesundheitsreform. Die Tageszeitung von Rifondazione
Comunista, Liberazione, schreibt in ihrer
Ausgabe vom 26.Juli dazu: "Ein erstes Ziel,
das absolut erreichbar ist, wäre das, die
nächsten Auseinandersetzungen gemeinsam
zu organisieren und die Forderungen der
einen mit denen der anderen
zusammenzuführen. Das war in Genua
möglich und müsste auch in Rom möglich
sein. Es müssen aber auch die Forderungen
der prekär Beschäftigten aufgegriffen
werden. Und dann ist da das Problem der
Umwelt und der Landwirtschaft, der
Frauenunterdrückung und der neuen
Bürgerrechte. Es wäre äußerst nützlich,
wenn wir im Herbst zu einigen gemeinsamen
Forderungen kämen: ein Mindestlohn,
saubere Umwelt, Rechte der MigrantInnen,
Kapitalbesteuerung, Verteidigung und
Ausbau des Sozialstaats - um nur ein paar
Beispiele zu nennen." o Parallel zu ihrer Ausweitung gibt es auch eine Radikalisierung der Inhalte - das konnte man in verschiedenen Debatten nachvollziehen: Schuldenstreichung nicht mehr an Bedingungen knüpfen; Abkehr von Konzepten der global governance, die von den globalen Institutionen befürwortet werden; Kritik der Einbindung der NGOs in die Globalisierungspläne, usw. Kampagne
Last but not least: Genua ist längst nicht vorbei; die Wahrheit über das Verhalten der Ordnungskräfte muss hergestellt werden, die politische Verantwortung schonungslos aufgedeckt und politische Konsequenzen daraus gezogen werden; es darf auch nicht passieren, dass die Justiz in Italien jetzt in dieselbe Kerbe haut wie vor ihr die Polizei und wie die schwedische Justiz anlässlich von Göteborg. Dies wird weiter politischen Zündstoff geben bis weit in den Herbst hinein. Gewalt
Die in Genua erfahrene Gewalt - das GSF hat von der Ausübung "privater Gewalt" durch die Sicherheitskräfte gesprochen und erstattet deswegen auch Anzeige gegen die Regierung - wirft die Frage auf, wie sich eine Demonstration gegen Polizeigewalt und Provokateure schützen kann. In Italien, aber auch in Frankreich - und es wäre verwunderlich, würde dies nicht für alle romanischsprachigen Ländern gelten - wird die Frage nach der Aufstellung von Ordnerdiensten offen diskutiert. Der zitierte Artikel in Liberazione
schreibt dazu: "Die Diskussion über einen
Ordnerdienst ist komplex; alle wollen mehr
Schutz, aber sie wollen die Erfahrungen der
Vergangenheit nicht wiederholen, wo es
'muskulöse' Ordnerdienste gab, die oftmals
ihre Kompetenzen überschritten haben und
von der Verteidigung ohne weitere
Grundlage zum Angriff übergegangen sind. zuerst erschienen in: SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2001 von Angela Klein, Journalistin, SoZ - Sozialistische Zeitung |