Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Brief aus Frankreich

Denis Godard

Die italienische Zeitung La Republica hat in der Folge der Streiks im November/Dezember 95 geschrieben: "Europa ist ein Vulkan, und wenn die Lava ausbrechen will, wählt sie sich dafür Paris."
"Dezember 95" war tatsächlich eine Eruption: sechs Millionen Streiktage in drei Wochen (fast die sechsfache Zahl der gesamten Streiktage des ganzen Jahres [oder: im ganzen Jahr sechs mal so viele?]), fast täglich Hunderttausende Demonstranten und annähernd zwei Millionen Demonstranten an einem Tage kurz vor dem Rücktritt [oder: Zurückweichen? recul] der Regierung.

Diese Eruption war nicht der Vulkan, sie hat im Gegenteil die Temperatur in ihrer Mitte erhöht.

Tatsächlich war die Tendenz seit dem Ende der 70er Jahre ein Rückgang der Streiktage (Ausnahmen waren 1982, als die Linke in die Regierung kam, und natürlich 1995) und der Umschwung ist offensichtlich erst seit 1998. Die Anzahl der Streiktage ist 1999 im Vergleich mit 1998 um 70 Prozent gestiegen, und noch einmal von 1999 auf 2000.

Im Januar 2001, fünf Jahre nach den Dezemberstreiks 95, zogen über 400.000 Arbeiter der Privatwirtschaft, Männer wie Frauen, durch die Straßen der französischen Städte und protestierten gegen den neuen Angriff der Arbeitgeber auf die Renten. Obwohl es keinen Streikaufruf gab, fanden an diesem Tag Loskuppelungen [?débrayages] in über 300 Betrieben statt.

Nicht nur in ihrer Anzahl haben sich die Kämpfe entwickelt. Der Charakter der Kämpfe hat sich mit verändert:

  • Die Rückkehr der Besetzung von Fabriken und Betrieben, die seit einem Jahr im Widerstand gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen vervielfältigt haben. Letzten Sommer haben Arbeiter sogar gedroht, ihre Fabrik zu sprengen, wenn ihre Forderungen nicht gehört würden.
  • Eintritt in den Kampf der weniger selbstbewussten Kategorien [Sektionen? catégories]. Die 95er Streiks betrafen hauptsächlich die Arbeiter im öffentlichen Dienst, die in Frankreich unkündbar sind. Seit zwei Jahren ist der Anstieg an Streiks im privaten Sektor am stärksten. Vor allem die unsichersten Kategorien mit dem niedrigsten Organisationsgrad, wie die Beschäftigten von McDonalds und das Sicherheitspersonal der Geldtransporte, haben die beispielhaften Kämpfe gefochten.
  • Unterstützung der einzelnen Kämpfe durch eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, was eine umfassendere Infragestellung des gesamten Systems ausdrückt. Ein Artikel in der Tageszeitung Le Monde schrieb im März 200: "Man kann in der vergangenen Periode beobachten, dass der Beifall für die sozialen Bewegungen aus der Logik einer Meinung resultiert: derjenigen der Furcht und der Kritik hinsichtlich des ökonomischen Systems und der speziellen Berechtigung der Forderungen."
  • In dieser Dynamik der Entwicklung von Kampffähigkeit [Kampfbereitschaft? combativité] ist vielleicht die Entstehung einer Minderheit von Arbeitern aus dem privaten Sektor, die sich zusammengeschlossen haben, um das Kräfteverhältnis zu verbessern, das bedeutendste Element des vergangenen Jahres. Die gewerkschaftsübergreifenden Zusammenschlüsse in mehreren in Auseinandersetzung befindlichen Betrieben (in Frankreich konkurrieren immer mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb) hatten für diesen 9. Juni eine landesweite Demonstration in Paris organisiert, an der 30.000 Arbeiter teilgenommen hat - ohne jegliche Unterstützung durch die nationalen Gewerkschaftsverbände! Die Existenz dieser Minderheit, die für Oktober Arbeitergerichtstage [Assise ouvrières] organisiert, wird ein angesichts einer neuen Welle von Kämpfen ein entscheidendes Element sein.

    Diese Rückkehr der Kampffähigkeit der Arbeiter in Frankreich ist nicht auf ökonomische Kämpfe beschränkt. Seit Dezember 95 hat sich das politische Gleichgewicht zugunsten der Linken verändert. Hatte der Front National bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 95 noch drei Millionen Stimmen bekommen, geriet er danach in eine existentielle Krise, aus der er sich noch immer nicht erholen konnte. Die Rechte, die seit 93 eine übergroße Mehrheit im Parlament besaß, ist seit 97 in der Minderheit. Die letzten Kommunalwahlen haben gezeigt, dass weder die Rechte noch die extreme Rechte aus der aktuellen allgemeinen Enttäuschung über die Politik der Linken Regierung gewinnen, sondern radikale, ökologische, anitkapitalistische und revolutionäre Listen.

    Der Fortgang dieser Entwicklung ist nicht festgeschrieben. Die Arbeiter, die heute kämpfen, stoßen sich mehr und mehr direkt an der Politik der Verwaltung des Systems, wie sie von der Linken in der Regierung angenommen wurde. Eine der Forderungen der Demo am 9. Juni war ausdrückliches ein gesetzliches Verbot von Entlassungen.

    Der weitere Fortgang hängt somit von der Entwicklung einer politischen Alternative ab, die in der Lage ist, die Minderheit der sich radikalisierenden Arbeitern zu organisieren und der Bewegung eine Richtung zu geben.

    Das umfangreiche Publikum, das die antikapitalistische Bewegung seit Genua gewonnen hat (8.000 Einzelpersonen sind seitdem bei Attac eingetreten), gibt ihr die Verantwortung, solch eine Alternative zu entwickeln, in dem sie sich auf die Kämpfe der Arbeiter bezieht.





    Sozialismus von unten, Nr. 7, Herbst/Winter 2001