Sozialismus von unten
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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Der Mythos vom "Friedensprozeß"

Der seit Ende letzten Jahres andauernde Aufstand der Palästinenser ist eine Folge ihrer Enttäuschung über den "Friedensprozeß", argumentiert Daniel Illger. Dieser brachte der palästinensischen Führung um Yassir Arafat neue Privilegien, änderte aber nichts an der elenden Lage der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten.

Seit Oktober 2000 entlädt sich der aufgestaute Zorn des palästinensischen Volkes in einer neuen Intifada. In den vorangegangenen Jahren hatte der Staat Israel die Palästinenser in eine Lage gebracht, in der für die überwältigende Mehrheit von ihnen kein menschenwürdiges Dasein mehr möglich war.

Hingegen stellen die bürgerlichen Medien des Westens die Entwicklung der letzten Monate oftmals so dar, als hätten "irrationale", "ethnische" oder "religiöse" Konflikte jede Aussicht auf Frieden zerstört. Vor dem erneuten Ausbruch der blutigen Unruhen hätte es eine echte Chance für den Nahen Osten gegeben. Dies sei dem sogenannten "Friedensprozeß", den Verhandlungen zwischen der PLO-Führung um Palästinenserpräsident Yassir Arafat und der israelischen Regierung, zu verdanken gewesen. Der Grund für den neuen Aufstand der Palästinenser liegt aber gerade in der bitteren Enttäuschung des palästinensischen Volkes über den "Friedensprozeß", in den es anfangs so große Hoffnungen gesetzt hatte. Sieben Jahre Verhandlungen haben den Palästinensern nichts gebracht als neue Ungerechtigkeiten und neues Leid.

Vertreibung, Elend und Widerstand: Der Weg nach Oslo

Um den Staat Israel auf dem Gebiet Palästinas errichten zu können, hatten zionistische Milizen und die israelische Armee in den Jahren 1947 und 1948 ungefähr eine Dreiviertel Million Palästinenser von ihrem Land, aus ihren Siedlungen und Städten vertrieben. Bis heute leben die palästinensischen Flüchtlinge in Lagern, die sich über Syrien, Jordanien und den Libanon verteilen; in erbärmlicher Armut.

Bis Anfang der 70er Jahre hatten die palästinensischen Widerstandsgruppen ausnahmslos jeden Kompromiß mit dem Staat Israel abgelehnt. Sie forderten, daß den Palästinenser das gesamte Land zurückgegeben werden müßte, von dem sie Israel bei der Staatsgründung 1948 vertrieben hatte. Doch in den 60er und 70er Jahre erlitten die palästinensischen Guerillaorganisation Fatah und arabische Staaten wie Ägypten und Syrien eine Reihe von militärischen Niederlagen gegen Israel.

Das Scheitern der Guerillataktik allein würde jedoch nicht ausreichen, den Schwenk der PLO hin zum Verhandlungstisch zu erklären.

Hinzu kam, daß die Fatah bereits zum politischen Arm des palästinensischen Bürgertums in den Flüchtlingscamps geworden war, was eine Orientierung auf die Selbstaktivität der palästinensischen Arbeiterklasse unmöglich machte, da diese auch die Machtposition des arabischen Bürgertums in Frage stellen würde.

Als einzige politische Perspektive blieb der palästinensischen Führung, in Verhandlungen mit Israel zu treten.

Die Kompromißbereitschaft der PLO-Führung brachte lange keine Ergebnisse, denn für die israelische Regierung bestand zunächst keine Notwendigkeit, mit den Palästinensern zu verhandeln. Tatsächlich schien es Anfang der 80er Jahre – vor allem nach dem Einmarsch in den Libanon 1982 – als sei Israel kurz davor, die PLO physisch zu vernichten.

Diese Situation begann sich mit der ersten Intifada 1987 zu ändern. Sie stellte nicht nur einen Kampf radikaler, steinewerfender Studenten dar, sondern inspirierte alle Palästinenser zum Widerstand, wie eine Aktivistin berichtet: "Wenn die Vereinigte Nationale Führung des Aufstandes zum Generalstreik ruft, ist nicht ein Geschäft offen, kein Mensch ist auf der Straße... Die Ladenbesitzer sind dabei. Die Arbeiter sind dabei – es ist nicht nur eine Revolution der Studenten."

Der palästinensische Aufstand führte zu einer Polarisierung innerhalb der israelischen Gesellschaft: Eine nennenswerte Minderheit von Israelis zeigte sich bereit, der brutalen Unterdrückung der Palästinenser offen entgegenzutreten; zugleich erstarkte die religiöse Rechte. Zudem sorgte die Intifada dafür, daß die Palästinenserfrage wieder ins Zentrum des Interesses der Weltöffentlichkeit trat.

Der eigentliche Wendepunkt kam aber erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Nach 1989 versuchten die USA erfolgreich, ihre Stellung als vorherrschende Macht im Nahen Osten zu festigen. Diejenigen arabischen Staaten, die sich bislang noch als Gegner des US-Imperialismus hervorgetan hatten, suchten einer nach dem anderen die "Freundschaft" der USA, weil sie erkannten, daß sie in George Bushs "Neuer Weltordnung" nur mit dem amerikanischen Kapital Geschäfte machen konnten. Abtrünnige wurden – auch als Warnung – mit überlegener militärischer Macht abgestraft; dies war das Schicksal Iraks im Zweiten Golfkrieg 1991.

Zudem konnten die herrschenden Klassen im Nahen Osten ihren Reichtum, ihre Profite, ihre außenpolitische Sicherheit und ihre Herrschaft über die eigene Bevölkerung mit Hilfe amerikanischer Finanz- und Waffenhilfe festigen und ausbauen.

Da den USA am Handel mit den arabischen Staaten und möglichst gutem Zugang zu den unter arabischer Kontrolle stehenden Ölquellen gelegen war, übten sie Druck auf Israel aus, mit der PLO in Verhandlungen zu treten. Ihr Ziel war, einen potentiellen Unruheherd im Nahen Osten zu befrieden. Schließlich hatte man erlebt, daß eine palästinensische Intifada zum Fokus für die Unzufriedenheit der unterdrückten Massen aller arabischer Staaten werden konnte.

Der "Friedensprozeß": Alter Wein in neuen Schläuchen

Die Hoffnungen, die viele Palästinenser in den "Friedensvertrag" von Oslo vom September 1993 gesetzt haben, sind heute zerstört. Tatsächlich dienten die Verträge von Anfang an nicht dem Interesse des palästinensischen Volkes, sondern dem der herrschenden Klassen der USA und Israels. Der amerikanische Sprachwissenschaftler und Kapitalismuskritiker Noam Chomsky bringt es auf den Punkt: "Der Begriff Friedensprozeß wird immer wieder verwendet, um die US-Politik zu beschreiben, selbst wenn sie in Wirklichkeit den Frieden blockiert."

So waren die Verträge von Oslo die ersten in einer Reihe von Abkommen, die die Unterdrückung der Palästienser formal absegneten. Offiziell sollte Oslo unter dem Motto "Land gegen Frieden" die Bedingungen schaffen, damit der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beigelegt werden könnte: den Palästinensern sollte ihr Land teilweise zurückgegeben und schließlich ein eigener Staat gewährt werden. Vorbedingung war u. a., das die Palästinenser die Existenz des Staates Israel anerkennen würden. Israel hatte seinerseits im Vorfeld von Oslo die PLO als offizielle Vertretung des palästinensischen Volkes anerkannt.

Tatsächlich sind die PLO-Führer um Arafat die einzigen, die auf palästinensischer Seite von Oslo profitiert haben, ihnen wurden infolge des Abkommens "staatsmännische" Privilegien und gewisse Machtbefugnisse zuerkannt. Für die Mehrheit der Palästinenser hat sich hingegen nichts zum Guten gewendet. Im Gegenteil.

Seit Oslo hat Israel seine Kontrolle über die besetzten Gebiete systematisch ausgebaut; alles gedeckt durch den Wortlaut der "Friedensverträge". Das Ziel der israelischen Strategen ist dabei letztendlich, eine völlige Zersplitterung der besetzten Gebiete zu erreichen: isolierte Kantone, abgeschnitten von fruchtbarem Land, Wasserquellen und der Weltwirtschaft.

Aggressive Siedlungspolitik

Die aggressive Siedlungspolitik Israels ist ein Mittel, dies zu erreichen. Alle israelischen Regierungen – gleich ob der Likud oder die Arbeitspartei, die die stärkste Fraktion stellt – setzen auf dieses Mittel. Die Zahl der israelischen Siedler, mehrheitlich radikale Zionisten, in den Palästinensergebieten hat sich dabei von 110.000 im Jahr 1993 auf 195.000 im Jahr 2000 erhöht.

Zwischen Baraks Amtsantritt als Premierminister im Juli 1999 und dem Ausbruch der zweiten Intifada ist mit dem Bau von 1924 Siedlerhäusern begonnen worden, mehr als während der gesamten Amtszeit des Likud-Premiers Benjamin Netanjahu gebaut wurden.

Die schwer bewaffneten Siedler erfüllen dabei die Funktion von Stellvertretern der israelischen Armee. Sie können die palästinensischen Dörfer voneinander isolieren und dienen zugleich als willige Provokateure, die fast nie juristisch für ihre Taten belangt werden.

Auch in anderer Hinsicht haben die "Friedensverträge" nichts dazu beigetragen, die Lage der Palästinenser zu verbessern. So sieht die Erklärung von Washington vor, insgesamt weniger als fünf Prozent der Westbank und 60 Prozent des Gaza-Streifens unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde zu stellen. Vor allem unfruchtbares Land mit wenig Wasservorkommen wurde der Kontrolle der Autonomiebehörde überstellt.

Kein Wunder: Israel bezieht 50 % seines Wasserbedarfs aus den besetzten Gebieten oder von den arabischen Nachbarstaaten. Wasser, das an Israel oder die orthodoxen Siedler geht, fehlt den Palästinensern, die nur 10 % der Wasservorkommen in den Palästinensergebieten verbrauchen dürfen. Nur in den jüdischen Siedlungen gibt es grünen Rasen, Blumenbeete und Swimmingpools.

Der Zusammenbruch der palästinensischen Wirtschaft

Der Abgrund, der zwischen der israelischen und palästinensischen Wirtschaft klafft, ist jener zwischen der "Ersten" und der "Dritten" Welt. Der UN zufolge lag das Bruttosozialprodukt pro Kopf in den Palästinensergebieten bei 1.692 US-$, in Israel bei 15.600 US-$. 21,5 % der Bevölkerung in den Palästinensergebieten sind arbeitslos, mit weiter steigender Tendenz. 1995 gingen 94 % der palästinensischen Exporte an Israel, 84 % der palästinensischen Importe kommen von dort. Diese Abhängigkeit nutzen die israelischen Herrschenden aus, um die Palästinenser weiter zu schwächen.

Seit 1993 hat die Zahl der totalen Grenzschließungen beständig zugenommen. Dies hat unter anderem zur Folge, daß Waren aus den Palästinensergebieten nicht nach Israel gelangen können, während israelische Exporte ungehindert die Grenze passieren und so den palästinensischen Markt überfluten.

Auch heute noch machen die Löhne der in Israel beschäftigten Palästinenser 40 % des Gesamteinkommens alles Palästinenser und ein Viertel des Volkseinkommens in Gaza-Streifen und Westbank aus. Seit Beginn der neuen Intifada hat die palästinensische Wirtschaft laut UN-Berichten infolge der andauernden Grenzschließung durch die israelische Regierung Verluste in Höhe von rund 1,5 Mrd. US-Dollar hinnehmen müssen.

An diesen brutalen Benachteiligungen hätte auch der Clinton-Barak-Plan vom letzten Sommer nichts geändert. Im Gegenteil: Wäre dieses Plan umgesetzt worden, so hätte er nur dazu beigetragen, sämtliche genannte Ungerechtigkeiten der israelischen Herrschaft über Palästina zu zementieren. Ein "Palästinenserstaat", der auf Basis des "Friedensprozesses" entstünde, wäre nichts anderes als ein wirtschaftlich und politisch ohnmächtiges, territorial verkrüppeltes Gebilde: eine Marionette an den Fäden des US-Imperialismus, jeder Willkür ausgeliefert.

"Man wurde jetzt von seinen eigenen Leuten verhaftet und gefoltert"

Das Problem ist, daß die PLO-Führung – um ihren Status als offizielle anerkannte Vertretung der Palästinenser und die damit verbundenen Privilegien nicht zu riskieren – die Macht der Intifada nicht nutzen will, um das Kräfteverhältnis zugunsten des palästinensischen Volkes zu verändern. Arafat versucht daher, durch Verhandlungen seine Legitimation als Vertreter der Palästinenser zu sichern.

Auch am Runden Tisch setzen die beteiligten Parteien aber nicht auf das Geschick ihrer Unterhändler, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht. Vielmehr vertrauen sie auf die Überzeugungskraft der realen Macht, die hinter ihnen steht: die Macht der Konzerne, die Macht der Armee.

Hinter Israel steht die USA, die reichste Nation der Menschheitsgeschichte. Welche Macht steht hinter Arafat, dem Staat Israel und seinen Verbündeten in Verhandlungen Zugeständnisse abzutrotzen? In Wahrheit kann Arafat nicht einmal mehr gegen den Willen der israelischen Regierung telefonieren, da Israel die Stromversorgung der Palästinensergebiete kontrolliert.

Die Autonomiebehörde vertritt längst nicht mehr den Willen des palästinensischen Volkes, sondern hat sich als herrschende Klasse in den Autonomiegebieten formiert. Dabei benutzt Arafat dieselben Mittel wie jeder andere Despot im Nahen Osten, wenn es gilt, die innere Opposition und jeden erstarkenden Widerstand zu unterdrücken: Folter, willkürliche Verhaftung, das Verschwindenlassen von Dissidenten...

Mohammed Shaker, Journalist bei der arabischen Tageszeitung Al-Quds, bestätigt, daß der größte Teil des völlig unzureichenden palästinensischen Haushaltes (60 %) für die sieben Sicherheitsorganisationen der Autonomiebehörde verbraucht wird. Nur 2 % fließen in den Aufbau der Infrastruktur – dies übrigens durchaus nicht im Widerspruch zu den Interessen der größten Geldgeber, der EU und den USA.

1994 bejubelten Tausende Palästinenser die Ankunft der ersten Polizisten der Autonomiebehörde. Doch die Dinge haben sich geändert, wie Munir Lada’a, ein Aktivist der ersten Intifada, erklärt: "Für die Mehrheit der Bevölkerung war das, was kam, eine doppelte Besatzung. Man wurde jetzt von seinen eigenen Leuten verhaftet und gefoltert."

Deshalb richtet sich die zweite Intifada nicht nur gegen den Staat Israel, sondern auch gegen eine palästinensische Elite, die in den Augen des palästinensischen Volkes nur noch für Korruption, Verrat und Unterdrückung steht.

Eine Perspektive für Palästinenser und Juden

Der Aufstand der Palästinenser ist gerechtfertigt und sollte bedingungslos unterstützt werden. Das ändert aber nichts an der Notwendigkeit, die Ziele und Strategien der Palästinenser auch öffentlich zu kritisieren. Viele Palästinenser verfolgen ein falsches Ziel, wenn sie ihr Heil darin sehen, die "Juden ins Meer zu werfen", das jüdische Volk zu vernichten.

Es gibt eine Perspektive für einen gemeinsamen Staat von Juden und Palästinensern auf dem Gebiet Palästinas. Voraussetzung dafür, daß dieser Staat eines Tages Wirklichkeit werden kann, ist aber, daß der Staat Israel in seiner jetzigen Form aufhört zu existieren – denn die blutige Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch die Macht Israels verhindert, daß im Nahen Osten Bedingungen entstehen können, die einen gerechten Frieden möglich machen.

Eines der ermutigendsten Zeichen in diesem Zusammenhang waren die Demonstrationen und Proteste, die aus Solidarität mit dem Aufstand der Palästinenser im gesamten Nahen Osten entflammten. Erstmals kam es auch innerhalb der Grenzen Israels zu einer Intifada – einer spontanen Erhebung der israelischen Araber.

Hierin, in einer Massenbewegung der unterdrückten Klassen aller arabischen Länder gegen den Imperialismus und gegen die herrschenden Klassen in den arabischen Staaten, liegt die Hoffnung auf eine zukünftige Befreiung Palästinas und eine Befreiung der gesamten arabischen Welt von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und dem Joch des Imperialismus.




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001