Sozialismus von unten
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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Finkelstein und der Holocaust

von Alex Callinicos

Ein Sturm der Empörung ist ausgebrochen über der "Holocaust Industrie", dem neuen Buch des linken New Yorker Historikers Norman Finkelstein. Zielscheibe seiner Kritik sind diesmal die großen Anstrengungen, dem Mord der Nazis an 5,1 Millionen Juden zu gedenken, die sich in einer Vielzahl von Museen, Instituten, Kursen und Konferenzen widerspiegeln.

Für Finkelstein ist der Holocaust eine Ideologie. Er meint, dass die vorherrschende Darstellung der Nazi-Verbrechen, vor allem in den USA, mittlerweile jedem ernsthaften Versuch im Wege steht, sie zu verstehen und ihre Erinnerung wach zu halten. In seiner Kritik dieser Darstellung folgt er dem liberalen Historiker Peter Novick. In dessen letztem Buch "Der Holocaust und die Kollektive Erinnerung" argumentierte Novick, dass der Holocaust auch für die amerikanischen Juden erst in den 60‘er und 70‘er Jahren zu einem wichtigen Thema geworden sei.

Diese Verschiebung sei das Ergebnis der Arabisch-Israelischen Kriege von 1967 und 1973 gewesen, schreibt Novick. Die amerikanischen Juden glaubten damals, der Staat Israel sehe sich einer dem Holocaust vergleichbaren Gefahr ausgesetzt. Das Beispiel des Holocaust heranzuziehen, erlaubte es der pro-israelischen Seite, ihre Gegner als verschleierte Nazis zu diffamieren. Finkelstein verwirft diese Erklärung, weil der Staat Israel sich während des Krieges von 1948, anlässlich seiner Gründung, in sehr viel größerer Gefahr befunden habe. Er argumentiert, dass Washingtons Entscheidung, den zionistischen Staat als strategischen Stützpunkt im Nahen Osten auszubauen, die Veränderung der öffentlichen Meinung bewirkt habe.

"Es war nicht Israels vermeintliche Schwäche und Isolation, nicht die Furcht vor einem zweiten Holocaust", schreibt er, " sondern seine bewiesene Stärke und strategische Allianz mit den Vereinigten Staaten, die die jüdischen Eliten nach dem Juni 1967 zur Errichtung der Holocaust-Industrie antrieb."

Ein zweiter Faktor, schreibt Finkelstein, war der wachsende Wohlstand der amerikansichen Juden und damit verbunden ihre zunehmende Ausrichtung auf die politische Rechte: "Indem sie begannen, aggressiv ihre unternehmerischen und Klasseninteressen zu verteidigen, brandmarkten die jüdischen Eliten jegliche Opposition zu ihrer neuen konservativen Politik als anti-semitisch."

Diese Analyse bildet die Grundlage für Finkelsteins scharfen Angriff auf die "Holocaust Industrie". So klagt er den Nobelpreis-Träger und Auschwitzüberlebenden Ellie Wiesel an, aus dem Holocaust eine "Mysterien-Religion" zu machen, die er für 25.000 Dollar pro Auftritt feilbiete. Genauso zwielichtig erscheinen ihm die Bemühungen jüdischer Organisationen um Wiedergutmachung von Lädern wie Deutschland oder der Schweiz. So behauptet er, dass die Widergutmachungssummen aufgebläht seien und wenig von dem, was aus den angeklagten Ländern "doppelt gemolken" ("double shakedown") würde, tatsächlich bei den Überlebenden des Holocaust ankomme.

Es kann deshalb kaum überraschen, dass Finkelstein wütend attackiert wird. Jonathan Freedland schrieb im Juli letzten Jahres im Guardian, der Mann stehe "jenen Menschen näher, die den Holocaust zu verantworten haben, als jenen, die ihn erlitten." Wenn man bedenkt, dass Finkelstens Eltern das Warschauer Ghetto und die Konzentrationslager überlebt haben, ist das eine geschmacklose Anklage.

Nichtsdestotrotz gibt Finkelstein in seiner Wut auf das amerikanische zionistische Establishment den falschen Leuten Rückendeckung. Inwieweit unterscheidet sich seine Versicherung, "das Feld der Holocaust-Studien ist voll von Unsinn, wenn nicht gar offenem Betrug" von dem Geschrei des Revisionisten David Irving anlässlich seines letzten Verleumdungsprozesses?

Finkelstein schafft es, Irvings "unverzichtbaren Beitrag" als Historiker zu würdigen. Und was noch schlimmer ist, er schließt sich Novicks Meinung an, dass der Verleugnung des Holocaust zuviel Gewicht beigemessen werde: "Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Holocaustleugner in den Vereinigten Staaten mehr Einfluss ausüben als die Flat Earth Society." Aber selbst wenn das für die USA zutreffen sollte, ist die Verleugnung des Holocaust in Europa ein sehr lebendiges politisches Thema. Wenn Jean-Mary Le Pen, der den Holocaust als ein "Detail der Geschihcte" abtut, in Frankreich 15% der Stimmen erlangen und der SS-Sympathisant Jörg Haider die Regierung Österreichs bestimmen kann, erweist es sich als gefährlicher Luxus, den Holocaust-Revisionismus zu ignorieren.

Am schwersten wiegt jedoch, dass Finkelstein zuweilen die Vorstellung unterstützt, zumindest bestimmte Juden seien teilweise für den Anti-Semitismus selbst verantwortlich. So schließt er sich der Behauptung an, dass der World Jewish Congress, indem er auf Reparationszahlungen der ost-europäischen Staaten besteht, sich "schuldig macht... an dem sehr hässlichen Wiedererstarken des Anti-Semistismus dort."

Das ist eine völlig falsche Ausgangsposition. Soweit es ein Wiederauferstehen des Anti-Semitismus in Russland und Osteuropa gibt, liegt seine offensichtlichste Ursache in der wirtschaftlichen und politischen Krise, die dort seit dem Zusammenbruch des Stalinismus Ende der 80‘er Jahre herrscht. In diesem Klima überrascht es nicht, dass Rassisten sich Juden und andere –vor allem die Roma- als Sündenböcke herauspicken, und zwar völlig unabhängig vom Verhalten der Opfer.

Finkelstein, wie schon Novick vor ihm, erhebt berechtigte Fragen. Er hat einige Aspekte herausgestellt, in denen das Gemahnen an die Opfer der Nazis zu einem Werkzeug der Mächtigen umfunktionert worden ist. Aber seine Polemik ist so übertrieben, dass er manchmal entgegen seinen Intentionen jenen unter die Arme greift, die von einem neuen Holocaust träumen.

Informationen über Alex Callinicos:
http://www.york.ac.uk/depts/poli/staff/atc.htm


Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001