Sozialismus von unten
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Sozialismus von unten, Nr. 5, Winter 2000/2001

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Vom lucky zum angry Streik

"Als hätten die anderen Studis nur darauf gewartet, daß endlich mal jemand anfängt, sich zu wehren..."

In der Diskussion über den Widerstand gegen den neoliberalen Umbau der Hochschulen heute spielt die Debatte um den Uni-Streik '97/'98 eine große Rolle. Im Rückblick auf den Streik zeigt Flo Butollo auf, wie enorm inspirierend diese Bewegung war und welche ungeheure Dynamik sie ausgelöst hat.

Bildung für alle - nicht für Profite Der Ursprung des Streiks lag in der materiellen Misere der Hochschulen. Jahrelange Kürzungen der Mittel bei steigenden Studierendenzahlen waren nicht ohne Wirkung geblieben. In Gießen, dem Epizentrum des Streiks, waren die Seminare so überfüllt, daß die Erstsemester rausgeschmissen wurden. Empört wurden spontane Besetzungen organisiert, der Streik wurde beschlossen. Als hätten die anderen Studierenden nur darauf gewartet, daß endlich mal jemand anfängt, sich zu wehren, sollte dieser Funke einen bundesweiten Flächenbrand auslösen. Plötzlich füllten sich die meisten Unis in Deutschland bereits vor Sonnenaufgang; Die ersten Streikposten kamen schon um sieben Uhr. Viele übernachteten in den Unis, es wurde bis zur absoluten körperlichen Erschöpfung diskutiert und organisiert, es gab Streikzeitungen, in denen aufs heftigste debattiert wurde, Vollversammlungen sprengten das Audimax. Innerhalb weniger Wochen waren über 100 Unis im Streik – mehrere hunderttausend Studenten waren beteiligt. Die Bewegung war damit quantitativ größer als `68!

Vereinnahmung

Die Kehrseite der Spontaneität war die Uneinheitlichkeit der Proteste. Es gab keinen bundesweiten Forderungskatalog der Streikenden. Die unterschiedlichsten Vorstellungen existierten nebeneinander. Auf der Basis dieser Schwammigkeit versuchten die Politiker - unterstützt von den Massenmedien - die Wut über die von ihnen verursachten Verhältnisse in geregelten Bahnen zu kanalisieren. Bezüglich der finanziellen Misere wurde den Streikenden von allen Seiten recht gegeben. Die Antwort darauf war jedoch von Seiten der Kohl-Regierung die Forderung nach Studiengebühren bzw. nach einer Reduzierung der Studentenzahlen. Zudem wurde die Bewegung als unpolitisch denunziert, indem selektiv berichtet wurde. Die politischen Forderungen nach Umverteilung, Streichung des Rüstungsetats etc. tauchten in den Medien selten auf.

Schnelle Radikalisierung

Diese Vereinnahmung heizte die Bewegung zunächst noch mehr an. Der anfangs als "Lucky Streik" bezeichnete Protest wurde zum "Angry Streik" – einige tausend Studenten stürmten die Bannmeile des Bundestages... Dennoch verfehlte die Taktik der Politiker nicht ihre Wirkung. Alle Demos, Besetzungen und Vollversammlungen hatten keine Zugeständnisse erzwingen können. Die scheinbar unaufhaltbare Dynamik der Streikbewegung war gestoppt. Die Vielfältigkeit der Proteste wurde zur Uneinigkeit, als sich die Frage nach dem weiteren Vorgehen stellte.

BUG

Der Streik-Kongreß "Bildung und Gesellschaft" (BUG) im Januar 98 sollte die Antwort auf diese Frage geben. Er führte noch einmal vor Augen, wie radikal und politisch die Streikbewegung unter der Oberfläche war, unter die die Berichterstattung der Medien nicht tauchen wollte. Die über 2000 Studierenden grenzten sich klar von den Lösungen der etablierten Politik ab. Stattdessen beinhalteten die Forderungen neben der nach Umverteilung auch die Kritik am Neoliberalismus und seinen Institutionen wie WTO, IWF und MAI und am kapitalistischen Verständnis von Arbeit und Bildung.

Was sollte man tun?

Diese Radikalität in den Ideen hatte jedoch keinen Ausdruck in der Praxis. Um die Bewegung weiterzuführen, wäre es nötig gewesen, einen weiteren Fokus für Aktivitäten zu organisieren und konkrete Initiativen zu unternehmen, um den Kampf der Studierenden mit dem Unmut der Arbeiter über 16 Jahre Kohl-Regierung zu verbinden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Studenten die Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung. In Frankreich waren Studenten 1968 und 1995 der Zündfunke für eine massenhafte Streikbewegung gewesen. Das kann einer Bewegung die Macht verleihen, die Politiker zum Nachgeben zu zwingen, da, anders als bei einem reinen Studentenstreik, die Produktion lahmgelegt und Milliarden vernichtet werden. Auf den Papieren des Kongresses war zwar zu finden, daß man sich als Teil einer Bewegung gegen Sozialabbau im allgemeinen verstand und Bündnisse mit "anderen gesellschaftlichen Gruppen" suchte. Konkret gab es jedoch keine gemeinsamen Initiativen. Beliebigkeit und Uneinigkeit charakterisierten stattdessen den Kongreß.

Illusionen und leere Versprechungen

Das Ausbleiben einer klaren Initiative verstärkte Tendenzen unter den Studierenden, sich nach anderen Lösungen für die Misere an den Unis umzuschauen. Ein Volksbegehren wurde initiiert, Gespräche, die (angeblich ahnungslose) Politiker aufklären sollten, ersetzten die Massenmobilisierung, und der Vorschlag, die FDP zu unterwandern, fand breite Unterstützung. Eine entscheidende Rolle dabei hatte die Hoffnung auf Rot/Grün – Lafontaine forderte die Wiedereinführung der Vermögenssteuer zur Finanzierung der Unis! Eine Abwartehaltung in Erwartung eines Regierungswechsel konnte auf der Basis der Ratlosigkeit bezüglich des Streiks gedeihen. Die Streikbewegung bröckelte ab und starb.

Kein Grund für Frust

Bildung für alle, sonst gibt es Krawalle Viele tausend Studierende waren Tage (und Nächte) lang aktiv, um die Lage an den Unis zu verbessern. Materiell hat sich kaum etwas verändert. Der Frust darüber ist verständlich. In einer erweiterten Perspektive ist er dennoch nicht berechtigt.

Zum einen war die Bewegung ein Nagel im Sarg der Kohl-Regierung. Während vor dem Streik die Mehrheit der Ansicht war, Kohl könne nicht gestürzt werden, so war das Bild unmittelbar nach dem Streik radikal entgegengesetzt.

Zum zweiten politisierte und radikalisierte sich eine ganze Generation von Studierenden. Viele beteiligten sich auch nach dem Streik in politischen Kampagnen und sind Teil der Bewegung, die sich heute gegen den globalen Kapitalismus und seine Auswirkungen formiert.

Die Kanalisierung der Bewegung in die Hoffnung auf einen Machtwechsel bei den Bundestagswahlen ‘98 war aus heutiger Perspektive eine Entwicklung, die schwer zu überspringen war. Die überwiegende Mehrheit der Studenten hatte die Erfahrung von Kürzungen unter einer sozialdemokratischen Regierung nicht gemacht. Die Minderheit, die den Verrat von Rot/Grün schon damals prognostizierte, war zu klein, zu uneinheitlich und zu passiv, um die Bewegung zu einem Erfolg zu führen.

Doch die Bewegung 97/98 war nur eine Stufe in einem Prozeß. Heute sind die Hoffnungen in Rot/Grün zerschlagen. Der neoliberale Umbau der Hochschulen geht in verschärftem Tempo weiter und die finanzielle Misere ist immer noch da. Die Erfahrung des 97er-Streiks – seine Spontaneität, Größe und Radikalität – ist eine, auf die wir immer noch stolz sein können. Sie sollte uns inspirieren, den Kampf um die Veränderung von Bildung und Gesellschaft wieder aufzunehmen!

von Flo Butollo


als PDF-Broschüre zum ausdrucken: Nein zum neoliberalen Umbau der Unis!
Sozialismus von unten, Nr. 5, Winter 2000/2001
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