Sozialismus von unten
Sozialismus von unten, Nr.9, 1997
www.sozialismus-von-unten.de


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Alex Callinicos

Die sozialistische Gesellschaft:
Markt und Plan im Sozialismus

übersetzt von Christian Schröppel 1

Alex Callinicos Alex Callinicos ist Mitlied der britischen 'Socialist Workers Party', Mitherausgeber des 'International Socialism Journal' und Professor für Politische Wissenschaft an der Universität von York.
Eine Bibliographie findet sich unter:
www.york.ac.uk/depts/
poli/staff/atc.htm

In der klassischen marxistischen Tradition wird die sozialistische Revolution als ein politischer Umbruch gesehen — die Zerschlagung des bestehenden Staates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiterräte. Aber dieser Abschnitt, so entscheidend er ist, um (wie Marx schrieb) "den Staat von einer Institution, die über der Gesellschaft steht, in eine, die ihr vollständig untergeordnet ist, zu verwandeln"2, stellt nur den Beginn eines wesentlich längeren und umfangreicheren Umgestaltungsprozesses dar. Marx beschrieb die Diktatur des Proletariats, die er mit den umfassend demokratischen Formen der Pariser Kommune gleichsetzte, als "nichts mehr als den Übergang zur Abschaffung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft"3.

Der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft wird in der revolutionären Tradition verstanden als ein Prozeß, der verschiedene Phasen umfaßt, die durch unterschiedliche Verhaltensweisen gekennzeichnet sind: So unterschied Marx in der Kritik des Gothaer Programms niedrige und höhere Phasen des Kommunismus: Während der niedrigen (der Diktatur des Proletariats), wird das Sozialprodukt nach dem Prinzip "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeitsleistung" verteilt werden; die Ungleichheiten, zu denen dies führen wird, da die Menschen sich sowohl in ihrer Leistungsbereitschaft wie in ihrer Begabung unterscheiden, wird in einer "höhern Phase der kommunistischen Gesellschaß", in der sowohl die höhere Entwicklung der Produktivkräfte[4] wie die Veränderung der persönlichen Motivationen die Anwendung eines neuen Verteilungsprinzips ermöglicht: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"5 [...]

Politischer Rahmen

Sozialismus im Sinne eines Übergangszeitraums zwischen Kapitalismus und Kommunismus darf deshalb weniger im Hinblick auf irgendwelche besonderen wirtschaftlichen Maßnahmen — wie beispielsweise die Verstaatlichung der Produktionsmittel — verstanden werden, sondern als der politische Rahmen, basierend auf der Rätedemokratie, in der die kapitalistischen Produktionsbeziehungen nach und nach beseitigt werden. [...]
Dieser Übergangszeitraum wird in wirtschaftlicher Hinsicht durch unterschiedliche Kombinationen von sozialistischer Planung und Marktmechanismen gekennzeichnet sein. Jedoch darf man Markt und Plan nicht als gesellschaftlich neutrale Techniken begreifen: sie repräsentieren zwei unterschiedliche Produktionsverhältnisse — Kapitalismus beziehungsweise Kommunismus — die im gegenseitigen Konflikt innerhalb eines sozialistischen politischen Ordnung nebeneinander bestehen. Die Diktatur des Proletariats wird im klassischen Marxismus als eine Vorbedingung für den Kommunismus begriffen: deshalb ist das Verhältnis von Plan und Markt dergestalt, daß der erstere sich zunehmend gegenüber dem letzteren durchsetzt.
Die Übergangsperiode ist kein statischer »Marktsozialismus«, sondern durch eine dynamische, vom Markt wegführende Bewegung gekennzeichnet. Den Markt als grundlegenden Regulierungsmechanismus des wirtschaftlichen Lebens zu bewahren heißt, Bedingungen aufrechtzuerhalten, die aller Wahrscheinlichkeit nach soziale Ungleichheiten schaffen, die eine neue Basis für die Ausbeutung darstellen, und die dazu neigen, heftige Schwankungen der Produktion, Arbeitslosigkeit und ungehinderte Umweltverschmutzung zu verursachen. [...]
[Nove6] argumentiert, daß [eine kommunistische Gesellschaft ohne Markt] Überfluß voraussetzt, definiert als "die Möglichkeit, alle Bedürfnisse kostenlos zu erfüllen, so daß keine vernünftige Person unzufrieden ist oder mehr von irgend etwas (oder zumindest von irgendeinem reproduzierbaren Gut) zu erlangen sucht". Eine solche Situation würde "Konflikte um die Verwendung von Mitteln" beseitigen, "da definitionsgemäß für jeden genug da ist, so daß es keine sich wechselseitig ausschließenden Wahlmöglichkeiten gibt, daher keine Möglichkeit [der Bedürfnisbefriedigung] ungenutzt bleibt und es deswegen auch keine Opportunitätskosten7 gibt". Nove weist diese Annahme als utopisch zurück.

Bedürfnisse

Betrachten wir seine Behauptung, die bleibende relative Knappheit [an Gütern] die Aufrechterhaltung des Markts unvermeidlich macht.
Sie bedeutet nichts anderes als ein Standardaxiom der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die Annahme der Unstillbarkeit der menschlichen Bedürfnisse. Die Wünsche sind unbegrenzt: Die Befriedigung eines Wunsches in einem bestimmten Ausmaß bewirkt einfach entweder das Verlangen nach seiner intensiveren Befriedigung oder seine Ersetzung durch einen neuen Wunsch. Diese Entwicklung schafft immer wieder neue Knappheit und deshalb Konflikte.
Der Markt stelle den wirksamsten und demokratischten Mechanismus zur Lösung dieser Konflikte dar, indem er die Stärke der Bedürfnisse verschiedener Menschen nach einem bestimmtem Gut an dem Geldbetrag mißt, den sie bereit sind, für es zu bezahlen. Die Voraussetzung dieses Arguments — die Unstillbarkeit der Wünsche — kann von Marxisten nicht einfach verworfen werden, da sie eine dynamische Auffassung der menschlichen Natur vertreten. Marx schrieb beispielsweise: "Der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Tieren durch die Unbegrenztheit und Veränderlichkeit seiner Bedürfnisse."
Die Entwicklung der Produktivkräfte[8] führt zur Ausweitung der menschlichen Möglichkeiten ebenso wie der menschlichen Bedürfnisse, auch wenn viele der letzteren in einer Klassengesellschaft unbefriedigt bleiben oder nur in einem begrenzten Maß erfüllt werden. Aber Bedürfnisse sind nicht das gleiche wie Wünsche. Sogar die Umgangssprache unterscheidet zwischen den beiden Begriffen. Es ist möglich, x zu benötigen, ohne sich dessen bewußt zu sein, aber dem Betreffenden ist es notwendig bewußt, sich x zu wünschen. Dieser begriffliche Unterschied zeigt die größere Objektivität der Bedürfnisse, die ihren Ursprung in den grundlegenden Interessen eines Menschen, nicht in den vorübergehenden Vorlieben haben. [...]
Geras[9] folgert daraus, daß der Kommunismus verbunden ist mit "Überfluß in Bezug auf «vernünftige» Bedürfnisse, der, so umfangreich und reichlich er auch sein könnte, dennoch weil entfernt von jeder Phantasie eines unbegrenzten Überflusses wäre".

Überfluß

Wenn wir solche «vernünftigen» Bedürfnisse im wesentlichen mit den Bedürfnissen gleichsetzen, die zuweilen als »Grundbedarf« an solchen Dingen wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Licht, Bildung und Transport bezeichnet werden, wird klar, daß in Bezug auf diese Güter Überfluß im Sinne Noves — kostenlose Versorgung — erreicht werden kann. Lange[10] erkannte, daß die Nachfrage für bestimmte Güter (er benutzt Salz als Beispiel) tendenziell inelastisch wird:
"Wenn der Preis eines solchen Gutes unter und das Einkommen der Konsumenten über einem bestimmten Minimum ist, dann wird dieses Gut behandelt als wäre es ein freies Gut." In den Fällen, in denen die Nachfrage nach Gütern auf diese Weise befriedigt werden kann, "kann die freie Vergabe als Verteilungsmethode angewandt werden."11 [...]
Es gibt natürlich unzählige Einwände gegen die Vorstellung einer Wirtschaft, in der die Grundbedürfnisse durch die freie Verteilung der Güter und Dienstleistungen befriedigt werden. Hinige sind ausschließlich wirtschaftlicher Natur und betreffen beispielsweise die Schwierigkeiten, die offensichtlich dadurch entstehen, daß es auch bei Grundbedürfnissen unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Befriedigung gibt — jeder braucht Kleidung, aber wer würde in einer Gesellschaft leben wollen, in der alle gleich anzogen sind? —, und daß sich die Grenzen zwischen Grund- und Luxusbedürfnissen, die durch technischen Fortschritt und steigende Erwartungen entstehen (man denke beispielsweise an die Bedeutung, die langlebigen Konsunigütern wie Fernsehgeräten und Waschmaschinen in modernen Industriegesellschaften erlangt haben), beständig verschieben.
Es scheint aber dennoch nichl so, als daß dies unüberwindliche Schwierigkeiten für eine kommunistische Gesellschaft darstellen würde: Es könnten beispielsweise Mittel für Gruppen von Menschen bereitgestellt werden, die Neuerungen entwickeln wollen und Mechanismen (die auch begrenzte Formen des Markts umfassen) könnten angewendet werden, um zu prüfen, ob es einen gesellschaftlichen Bedarf für ihre Güter gibt. Es ist zudem klar, daß mehr über das Wesen demokratischer Formen der Planung, die auch horizontale Beziehungen zwischen unterschiedlichen Produktionseinheiten und zwischen Produzenten und Verbrauchern umfassen, nachgedacht werden muß und weniger über die vertikalen Strukturen der stalinistischen Kommandowirtschaft, die durch die bindende Kontrolle zentraler Planstellen, Industrieministerien und Unternehmen gekennzeichnet sind. Aber es ist nichts als neoliberaler Dogmatismus, darauf zu bestehen, wie es Nove und andere Wissenschaftler, die seiner Denkweise folgen, tun, daß die einzige Form, die diese Beziehungen annehmen können, die des Markts ist.

Menschliche Natur

Eine zweite Gruppe von Einwänden betreffen die ihnen zufolge überzogenen Anforderungen, die in einer solchen Gesellschaft an die menschliche Natur gestellt werden. Steht es nicht fest, daß das Wachstum an Produktivität und Produktion, das benötigt wird, um selbst den "vernünftigen" Überfluß, den Geras verteidigt, aufrechtzuerhalten, nur durch materielle Anreize erreicht werden kann, die sich aus Belohnungen für individuelle Anstrengungen, die dem für das Ergebnis dieser Anstrengung auf dem Markt erzielten Preis entsprechen, ergeben? Und wenn dem so ist, dann ist eine kommunistische Gesellschaft ein begrifflicher Widerspruch, da ihre materiellen Voraussetzungen von der Existenz des Markts abhängen.
Marx erkennt tatsächlich die Notwendigkeit materieller Anreize in der Übergangszeit zum Kommunismus, in der die Einkommensunterschiede die Anteile der Individuen an der Produktion widerspiegeln, an. Aber die Sache verhält sich im Kommunismus selbst anders, in dem das Sozialprodukt nach den Bedürfnissen, nicht nach der Arbeitsleistung verteilt wird. Marx beschreibt die Voraussetzungen dieser Situation in einem berühmten Abschnitt der Kritik des Gothaer Programms:
"In einer höhern Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung des Einzelnen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktivkräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."[12]
Die wesentliche Behauptung, die Marx hier aufstellt, ist möglicherweise, daß im Kommunismus die Arbeit sich zum "ersten Lebensbedürfnis" entwickeln wird. Das spiegelt die für seine Theorie der menschlichen Natur zentrale Auffassung wider, daß die Arbeit nicht nur die Aktivität darstellt, mittels derer Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen, sondern auch, potentiell, den Bereich, in dem sie sich am umfassendsten selbst verwirklichen können. Dieser Unterschied wird durch eine wunderbare Beobachtung, die in Marx' ökonomischen Manuskripten enthalten ist:
"Milton produzierte «Paradise Lost» aus dem gleichen Grund, aus dem eine Seidenraupe Seide produziert. Es war eine seinem Wesen entsprechende Aktivität. Später verkauft er das Produkt für £5."13
Marx sagt voraus, daß die Menschen dann, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind, Erfüllung durch solche Formen der Arbeit erreichen, die sie als "ihrem Wesen entsprechende Aktivitäten" wahrnehmen. Marx glaubt allerdings nicht, daß "Arbeit [ , die] travail attractif[14] Selbstverwirklichung des Individuums sei, ... bloßer Spaß sei, bloßes amusement [15], wie Fourier es sehr grisettenmäßig[16] naiv auffaßt. Wirklich freie Arbeiten, z.B. Komponieren, ist grade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung."17 Seiner Vorstellung zufolge verwirklichen sich die Menschen im Kommunismus mittels anspruchsvoller, aber schöpferischer Tätigkeilen. Wie wirklichkeitsnah ist diese Ansicht?
Eine Schwierigkeit besteht in der Wahrscheinlichkeit, daß es gesellschaftlich notwendige Arbeiten geben wird, die niemand erfüllend findet. Fourier18 setzt eine grundsätzlich bestehende Harmonie zwischen der Vielfalt der sozialen Bedürfnisse und der Verschiedenheit der menschlichen Vorlieben voraus, die der Gestalt der Natur selbst eingeschrieben sei: so würde die Vorliebe kleiner Jungen für Dreck die Frage, wer den Abfall im Kommunismus einsammelt, lösen (eine Annahme, die darauf schließen läßt, daß Fourier nicht viel Zeit mit kleinen Kindern verbracht hat). Davon geht Marx nicht aus. Tatsächlich argumentiert er in einem Abschnitt; "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion", die "das Reich der Notwendigkeit bleibt".
Folgerichtig hängt "die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre. Reich der Freiheit" von der "Verkürzung des Arbeitstages" als seiner "Grundbedingung" ab.19 Einige Arbeiten bleiben daher auch im Kommunismus eine Belastung, die nur als "Mittel zum Leben" ausgeführt werden, auch wenn dies nun weniger für den Einzelnen als für die Gesellschaft als Ganze gilt. Aber wie wird diese Last, so sehr sie auch durch Produktivitätssteigerungen, die eine starke Verkürzung der Arbeitszeit ermöglichen, erleichtert wird, verteilt werden? Diese Frage kann am besten anhand des Problems der Konfliktlösung in einer kommunistischen Gesellschaft behandelt werden, das ich im folgenden betrachten werde.

Arbeitsteilung

Ein verbreiteter Einwand gegen Marx' Vorstellung von der Rolle der Arbeit im Kommunismus ist, daß er unrealistischerweise die Abschaffung der Arbeitsteilung erwarten würde. Ein besonderer Angriffspunkt dieses Spotts ist seine berühmte Vorhersage in der Deutschen Ideologie, daß "in einer kommunistischen Gesellschaff, in der Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."20
Eine der überraschenden Eigenschaften dieses Abschnitts ist, daß die Tätigkeiten, die er aufführt, alle vorindustrieller Art sind. Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, wie ein weniger idyllischer Kommunismus ohne jede Spezialisierung auskommen könnte: könnte ich genauso einfach von, nehmen wir an, der Gehirnchirurgie zur Flugzeugentwicklung wechseln wie von einer der von Marx genannten bäuerlichen Tätigkeiten zu einer anderen? Könnte ich das überhaupt tun?
Ali Rattansi stellt fest, daß Marx in späteren Schriften, wie zum Beispiel im Kapital, dazu neigt, die materiellen Zwänge des »Reichs der Notwendigkeit« sehr viel mehr zu betonen und das Augenmerk auf die Abschaffung der Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit als Teil der Entwicklung, durch die die Arbeiter die gemeinsame Kontrolle über die Produktion erlangen, zu richten.21 Dennoch hält G. A. Cohen auch den späteren Marx für wirklichkeitsfern. Die Idee "der allseitigen Entwicklung des Individuums" ist, Cohen zufolge, utopisch, da es allgemein dem Einzelnen unmöglich ist, alle seine Fähigkeiten zu entwickeln. Jedenfalls ist Selbstverwirklichung oft in einer spezialisierten Konzentration auf einige besondere Fähigkeit oder verwandte Fähigkeiten möglich: Hätte Rembrandt sich stärker verwirklichen können (oder die Gesellschaft einen größeren Gewinn gehabt), wenn er nicht ausschließlich ein Maler gewesen wäre?20
Diese Kritikpunkte betreffen aber nicht die zentralen Inhalte der Vorstellung, die Marx von der Rolle der Arbeit im Kommunismis hatte. Sein hauptsächlicher Einwand gegen die Arbeitsteilung ist, daß die jeweilige berufliche Stellung vorherbestimmt ist: die Position des Einzelnen in der Arbeitsteilung ist nicht selbstgewählt, bestimmt aber die Möglichkeiten, die das Leben dem Betreffenden bietet. Das wird aus den Zeilen, die dem bekannten Abschnitt aus der Deutschen Ideologie unmittelbar vorausgehen, deutlich:
"Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will [..]"23
Das hier ausgeführte Problem ist das, was Marx in dem oben zitierten Abschnitt der Kritik des Gothaer Programms "die knechtende Unterordnung des Einzelnen unter die Teilung der Arbeit" nennt. Das beseitigen heißt nicht, jegliche Spezialisierung abzuschaffen. Es bedeutet, daß die Menschen Zugang zu Ausbildung für diejenigen Tätigkeiten, von denen sie annehmen, daß sie ihnen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen, haben und daß sie auch tatsächlich die Möglichkeiten (Umschulung usw.) erhalten, die ihnen erlauben, von einem Beruf in einen anderen zu wechseln. Die damit verbundene Abschaffung des "Gegensatzes zwischen geistiger und körperlicher Arbeit" setzt weitergehende Veränderungen voraus: zum Beispiel die Umwandlung eines Bildungssystems, das die meisten Menschen für untergeordnete, niedrig bezahlte Arbeiten ausbildet, unabhängig davon, ob es sich um Produktionsoder Büroarbeit handelt, und die Abschaffung der materiellen Vorteile, des gesellschaftlichen Einflusses und des kulturellen Prestige, die mit bestimmten Berufen verbunden sind, von denen in einer kommunistischen Gesellschaft zumindest einige (zum Beispiel ausgebildete medizinische Fachleute) gebraucht würden. [...]

Konflikte

Die Veränderungen, die mit dem Erreichen des Kommunismus verbunden sind, hängen von den materiellen Zwängen des »Reichs der Notwendigkeit« ab. Das bedeutet sowohl, daß Menschen einen Teil ihrer Zeit darauf verwenden müssen, Arbeit zu leisten, mit der sie sich nicht verwirklichen können, als auch, daß einige ihre Bedürfnisse unbefriedigt bleiben werden. Beide Tatsachen werden wahrscheinlich Konflikte hervorrufen. [...]
Viele sehen in tler Erkenntnis, daß Marx' Kommunismus nicht Fouriers Harmonie entspricht, daß die Abschaffung der Klassen nicht gleichbedeutend ist mit der Abschaffung von Konflikten, das Eingeständnis des Scheiterns. [...] Beispielsweise schreibt David Held Marx die Ansicht zu, daß "das Ende der Klassen das Ende jeder legitimen Basis für Konflikte bedeutet". Ähnlich äußert sich Jon Elster, der Marx beschuldigt zu glauben, daß die "gesellschaftliche Entscheidungsfindung ohne. Konflikt ablaufen kann, durch einstimmige Zustimmung oder Wahl"
Tatsächlich gibt es keinen Hinweis darauf, daß Marx etwas so Dummes geglaubt hat, und die bestehenden Hinweise zeigen in die entgegengesetzte Richtung. Zunächst ist der Kommunismus eine Gesellschaft, die vom Ziel der Selbstverwirklichung geleitet wird. Sie ist, wie er im Kommunixtischen Manifest sagt, "eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für dir. freie Entwicklung aller ist"24. [...]
Weit davon entfernt, eine Vereinheitlichung der Persönlichkeit zu erzwingen, würde eine kommunistische Gesellschaft eine Ausweitung der Vielfalt mit sich bringen. Perry Anderson argumentiert, daß "eine sozialistische Gesellschaft eine wesentlich komplizierte Gesellschaft als diejenige, die wir heute erleben, sein. Es erscheint völlig klar, daß in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Produktion, die Macht und die Kultur tatsächlich demokratisiert sein würden, eine riesige Verbreitung un-. terschiedlicher Lebensweisen eintreten würde. Die Menschen würden wühlen, wie sie leben wollen, und es ist völlig offensichtlich, daß die Menschen unterschiedliche Temperamente, Begabungen und Werte haben. Diese Unterschiede werden von der kapitalistischen Marktwirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückt und auf einen sehr engen Bereich eingeengt."25
Diese "Verbreitung unterschiedlicher Lebensweisen" würde unvermeidlich Anlaß zu Konflikten geben. [...] Genau dies gesteht Marx zu. wenn er schreibt:
"Die bürgerliche Produktionsweise ist die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses — antagonistisch nicht im Sinne individueller Gegensätze, sondern eines Antagonismus, der sich aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen ergibt."
Dies ist aber nicht die widerwillige Hinnähme einer unerwünschten Wirklichkeit: im folgenden Salz sagt er, daß der Sturz des Kapitalismus das Ende der "menschlichen Vorgeschichte" bedeutet, eine Anmerkung, die zeigt, wie weit Marx von der Idee vom "Ende der Geschichte", die von Fukuyama populär gemacht wurde, entfernt ist.26 Sobald die Menschheit in die Epoche ihrer wirklichen Geschichte eintritt, könnte der "individuelle Antagonismus" eine der hauptsächlichen Triebkräfte des sozialen Wandels in einer Welt werden, die nicht mehr vom Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen bestimmt wird. [...]
Es ist deshalb dem klassischen Marxismus fremd, den Kommunismus mit der Abwesenheit von Konflikten gleichzusetzen. Daraus ergeben sich zwei Fragen.
Erstens: wie unterscheidet sich der "individuelle Antagonismus" von den Konflikten der Klassengesellschaft? Die Antwort ist sicherlich, daß die Konflikte, die in einer kommunistischen Gesellschaft entstehen, nicht mit systematischen Unterschieden der sozialen Macht, die die Kontrolle oder den Mangel an Kontrolle, den der Einzelne über die Produktivkräfte hat, widerspiegeln, zusammenhängen. Es ist wahrscheinlich, daß Konflikte entstehen werden, weil sich, in Andersons Worten, die Individuen in "Temperamenten, Begabungen und Werten" unterscheiden.
Aber diese Unterschiede werden wohl nicht zu einer systematischen sozialen Polarisierung führen, so daß dieselben Gruppen von Individuen sich in jeder einzelnen Frage gegenüberstehen. Vielleicht werde ich mit jemandem übereinstimmen, daß Autos abgeschafft werden sollten, aber seinen Vorschlag, daß die Großstädte in kleinere, verstreute Siedlungen aufgelöst werden sollten, ablehnen. Solche Unterschiede gibt es auch heute, aber die Tatsache, daß die Individuen in der Verwirklichung ihrer Ziele, wie vielfältig sie auch sein mögen, von ihrer Position in antagonistischen Produktionsverhältnissen (d. h. von ihrer Klassenlage) abhängig sind, bedeutet, daß sich eine übergreifende Polarisierung der Interessen entwickelt.

Demokratie

Eine kommunistische Gesellschaft würde, indem sie die Lage der Individuen in Bezug auf die Produktionsverhältnisse einander angleicht, diejenige pluralistische Ordnung ermöglichen, die den Behauptungen angelsächsischer Politikwissenschaftler zufolge eine Eigenschaft der westlichen liberalen Demokratien sein soll, aber durch die ihnen zugrunde liegenden Ungleichheiten in der Verteilung der Macht über die Produktivkräfte verhindert wird. Jede Frage wird ihre eigene unterschiedliche Aufteilung der Meinungen bewirken, so daß sich die Individuen in unterschiedlichen Fragen in unterschiedlicher Zusammensetzung gegenüberstehen und so ein Kaleidoskop sich überschneidender und kurzlebiger Parteien ausbilden, die aufgrund bestimmter Fragen entstehen und anläßlich dieser um Unterstützung für ihre Position werben, um sich aufzulösen oder zu verkleinern, wenn sie zumindest vorläufig entschieden ist.
Zweitens: auf welche Weise werden derartige Konflikte gelöst werden? Wieder ist die Antwort offensichtlich genug: durch irgendein Verfahren. Entscheidungen auf der Grundlage des Prinzips der Mehrheitsentscheidung zu fällen. Lenin weist die Idee, daß das Absterben des Staates gleichbedeutend mit dem "Beginn eines Gesellschaftssystem, in dem das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht existiert",27 sei, zurück. Marx trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn er voraussagt, daß im Kommunismus "die öffentliche Gewalt den politischen Charakter" verliert: "Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte. Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen."28
Der klassische Marxismus unterscheidet zwischen dem Staat, der ein Phänomen der Klassengesellschaft ist, und der "öffentlichen Gewalt", die auch im Kommunismus existiert, in dem sie vorn Mehrheitsprinzip bestimmt wird. Die Begründung für diesen Gegensatz liegt in der Auffassung von Marx und Lenin, daß der Staat als besonderer Unterdrückungsapparat sowohl eine Konsequenz der Existenz des Klassengegensatzes ist als auch dazu dient, ihn aufrechtzuerhalten. Hierin liegt die Bedeutung der Entstehung von Formen der Arbeitermacht, beginnend mit der [Pariser] Kommune, die, wie Engels schrieb, "aufhörte, ein Staat im eigentlichen Sinne zu sein."29
Die sozialistische Demokratie als eine Form des Staates, die, wie wir sahen, die systematische Beteiligung der arbeitenden Mehrheit in der Selbstverwaltung beinhaltet, ist auf eine Gesellschaftsform ausgerichtet, in der ein besonderer Unterdrückungsapparat nicht mehr notwendig ist. Diese Gesellschaft ist der Kommunismus, sagt Lenin, "da niemand unterdrückt werden kann — »niemand« im Sinne einer Klasse, eines systematischen Kampfs gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung"30 Daraus folgt nicht, daß eine solche Gesellschaft ohne eine "öffentliche Gewalt", in anderen Worten, ohne Mechanismen, Konflikte zu lösen und Entscheidungen auf der Basis demokratischer Verfahren, die in den langen Kämpfen um die Emanzipation in feudalen und später in kapitalistischen Gesellschaften entwickelt wurden, zu treffen und durchzusetzen. [...]



Anmerkungen


 1 Originaltext: A. Callinicos: The Revenge of History, Polity Press, Oxford 1991, Kap. 4.3 ("Towards Comrnunism") Alle Zitate sind, soweit nicht anders angegeben, nach dem Text von Callinicos übersetzt. Einige Fußnoten, die auf englische Veröffentlichungen verweisen, wurden im vorliegenden Text gestrichen, die Zwischenüberschrift hinzugefügt. Abkürzung: . MEW: K. Marx, F. Engels: Werke, Berlin (DDR)
 2 K, Marx, F. Engels: Collected Works, London 1975ff., Bd. XXIV, S. 94
 3 K. Marx (vgl. Fn. 2): Bd. XXXIX, S. 62 und 65
 4 [Produktivkräfte: die natürlichen, technischen und intellektuellen (Bildung) Bedingungen des Arbeitsprozesses]
 5 K. Marx (vgl. Fn. 2): Bd. XXIV, S. 87 [hier zitiert nach: K. Marx: "Kritik des Gothaer Programms", in: MEW, Bd. XIV, S. 211
 6 [Alec Nove, britischer 'Marktsozialist']
 7 [Opportunitätskosten: fiktive Kosten, die dadurch entstehen, dass bei einer anderen als der tatsächlichen Verwendung der Mittel ein höherer Ertrag oder Nutzen erreicht worden wäre]
 8 K. Marx: Results. S. 1068
 9 [Norman Geras, ehem. Mitherausgeber der Zeitschrift New Left Review]
10 [Oskar Lange, polnischer Volkswirtschaftler. 1904-1965, seit 1949 Mitglied des ZK der polnischen KP]
11 O. Lange, F. M. Taylor: On the Economic Theory of Socialism. New York 1964. S. 139-141 [..]
12 K. Marx (s. Fn-5)
13 K. Marx: Theories of Surplus-Value, Bd.I, Moskau 1963, S. 401
14 [anziehende Arbeit]
15 [Vergnügen]
16 [etwa: milchmädchenhaft]
17 K. Marx: Grundrisse [der Kritik der politischen Ökonomie), Harn K Hids worin 1973. S. all [hier nach: MEW, Ed. 42, 1583, S. 512]
18 [Charles Fourier, französischer utopischer Sozialist, 1772-1837]
19 K. Marx. Das Kapilal. Moskau 1971. Bd. III, S. 820 61 [hiernach: MEW, Bd. 25, 1988, S. 828]
20 K. Marx (vgl, Fn. 2): Bd V, S. 47 [hier nach: ders.: Die deutsche Ideologie. in: MEW. Bd. 3, 1981, S 33]
21 A. Rattansi: Marx and the Division] Labour, London 1982
22 G. A. Cohen: "Reconsidering Historical Materialism", in: A. Callinicos (Hg.): Marxist Theory. Oxford 1989, S. 159-161 [...]
23 K. Marx (s. Fn. 20)
24 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2): Bd. VI, S. 506 [hier nach: MEW, Bd. IV, S. 482]
25 P. Anderson: "Modernity and Revolution", in. C. Nelson, L. Grossberg: Marxism and the Interpretation of Culture. Basingstoke 1988, S. 336. Anderson spricht hier von Sozialismus, beschreibt aber eine Gesellschaftsform, die erst mit dem Übergang zum Kommunismus stabil erreicht werden kann.
26 K. Marx: A Contributation to ihe Critique of Political Economy (London 1971), S. 2lf [...]
27 Lenin: Collected Works, Moskau 1974, Bd. XXV, S. 461
28 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2). Bd. IV, S. 505 [hier nach: MEW. Bd. IV. S.482]
29 K. Marx, F. Engels (vgl. Fn. 2): Bd. XXIV, S. 71
30 Lenin (vgl. Fn. 27): S. 469

 






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